69
Kjell erwachte von einem harten Stoß gegen seine Schulter.
„Wach auf!“, flüsterte Ida.
Er öffnete die Augen. Es war dunkel im Zimmer. Ida saß aufrecht neben ihm im Bett und starrte ihn mit funkelnden Augen an.
„Da ist jemand an der Tür! Es klopft.“
Kjell hob den Kopf, konnte aber nichts hören. Ein Augenblick verstrich. Da klopfte es wieder. Er richtete sich auf und krabbelte zum Bettrand. Er griff nach seiner Unterhose. Es bereitete ihm einige Schwierigkeiten, sie über seine Fußschiene zu ziehen. Das Hemd fand er in der Dunkelheit nicht. Er humpelte zur Tür und hielt sein Ohr gegen das Holz. Weil er nichts hörte, drückte er die Türklinke und öffnete die Tür ein Spalt weit.
Im Flur brannte Licht. Vor ihm stand ein Mann in Pilotenuniform. Kjell blinzelte. Wollte er ihn jetzt etwa auch noch ausschimpfen?
Er zog die Tür weiter auf. „Ja, bitte?“
Im Hintergrund hörte er Ida kichern. Sie musste denselben Gedanken haben.
„Bist du Kjell Cederström?“
Erst jetzt kam ihm der Gedanke, dass etwas geschehen sein könnte. Der Mann war ja von der Küstenwache. Er nickte.
„Ich habe Befehl bekommen, dich nach Stockholm zu bringen.“
„Jetzt?“
„Ja.“
Er reichte Kjell einen Zettel. Es war ein Telegramm. Der Inhalt bestand nur aus drei Wörtern. Sie stammten von Henning.
„Objekt gefunden. Eilt.“
„Einen Augenblick, bitte.“ Nachdem Kjell die Tür angelehnt hatte, sprang Ida sofort aus dem Bett. Sie war nackt und hatte alles mitangehört.
„Soll ich nicht lieber doch mitkommen?“, fragte sie.
„Bleib nur. Mit deinem Bauch wirst du dich in einem Hubschrauber nicht wohlfühlen.“
Ida steckte schon mit dem linken Bein in ihrer Hose. „Ja, gut.“
Fünf Minuten später verließ Kjell das Zimmer. Der Pilot, der Jerker hieß, musste ihn beim Gehen stützen. So eilten sie den Hügel hinab zum Hafen. Dort lag alles still. Es war halb drei. Der Hubschrauber wartete in der Nähe des Restaurants, wo sie am Abend gesessen hatten. An Größe übertraf er die Polizeihubschrauber, mit denen Kjell sonst flog, um das Doppelte. Jerker half Kjell beim Einsteigen und Anschnallen. Danach konnte er ohne weitere Vorbereitungen selbst einsteigen und den Motor anlassen, als säßen sie in einem Kleinwagen. Die Rotorblätter reichten über die Plattform hinaus und kamen nur langsam in Fahrt. Das Wasser um die Plattform herum begann sich zu kräuseln, und bald darauf wiegten sich auch die nahen Bäume.
Jerker ließ den Hubschrauber weit aufsteigen, bevor er Geschwindigkeit aufnahm. Kjell vermisste das typische Schmettern der Rotorblätter. Es klang eher nach einer riesigen Dampfmaschine mit Zweitaktmotor. Auf jeden Takt folgte eine ewige Stille, während der Kjell befürchtete, dass sie in freiem Fall ins Meer stürzten. Das lag an den riesigen Rotorblättern und dem Motor, erklärte Jerker.
Der Flug zur Stadt hatte überhaupt keine Ähnlichkeit mit der Schiffsroute. Kjell gab schnell den Versuch auf, die dunklen Flächen in Wasser und Wald zu trennen. Bald überflogen sie Värmdö, und Kjell versuchte herauszufinden, ob bei seiner Jugendliebe Jonna das Licht brannte. Über Lidingö schwenkte Jerker zu Kjells Erstaunen nach Norden ab.
„Fliegst du nichts zum Polizeigebäude?“, fragte Kjell.
„Da kann ich nirgendwo landen.“
„Wir haben einen Landeplatz auf dem Dach.“
„Kann das Dach sechzehn Tonnen tragen?“
„Da müsste ich erst beim Portier nachfragen“, antwortete Kjell.
Jerker lachte. „Ich soll beim Karolinska landen.“
Als die runde Plattform des Karolinska-Krankenhauses in Solna in Sicht kam, standen dort bereits drei Personen und spähten zum Himmel. Jerker fluchte, dass die drei lieber woanders stehen sollten, wenn er zur Landung ansetzte.
„Das sind die Notärzte“, brüllte Jerker. „Die kommen immer herausgelaufen, sobald sich ein Hubschrauber nähert.“
Er schaltete eine Batterie von Scheinwerfern ein, und sofort ergriffen die drei Gestalten die Flucht.
Nach dem Aufsetzen musste Kjell abwarten, bis die Rotorenblätter stillstanden. Dann hangelte er sich ins Freie. Niemand kam, um ihm zu helfen. Im Flur empfingen ihn zwei uniformierte Polizisten. Mit ihrer Hilfe humpelte er durch den langen Gang bis zum Haupteingang des Krankenhauses und bereute, sich so früh von seinem Rollstuhl getrennt zu haben. Erschöpft sank er auf die Rückbank des Streifenwagens.
Der Wagen fuhr sofort los und bog bald auf den Solnavägen ab.
„Fahren wir zur Rechtsmedizin?“, fragte er von seinem Platz auf der Rückbank.
„Nein. Wir sollen dich zur KTH bringen.“
Mit der Technischen Hochschule hatte Kjell noch nie in seinem Leben zu tun gehabt, und wenn er mit dem Bus mal daran vorbeifuhr, schaute er aus Langeweile vor der Fassade und aus Langeweile vor der Physik im Allgemeinen immer weg. Über die KTH wusste er nicht mehr als eine Anekdote. Nach dem Krieg wollte Schweden den Anschluss an das Atomzeitalter nicht verpassen und hatte dort mitten in der Stadt fünfzehn Jahre lang im Keller einen Reaktor betrieben, bis den Verantwortlichen 1970 ihr Wahnsinn klar wurde. Im selben Zeitraum hatte der Staat Kjells Vater viermal wegen illegalen Schnapsbrennens im Keller verurteilt und ihn beim letzten Urteil wegen seiner fortgesetzten Verantwortungslosigkeit ein halbes Jahr aufgebrummt.
Als sie am Roslagstull auf den Valhallavägen einbogen, lag die Allee verlassen da. Das Gebäude der KTH war ein Ziegelbau aus drei Flügeln in Form eines Hufeisens. Der Fahrer wendete vor der Aufgangstreppe und bremste scharf. Kjell sah Henning, Barbro und Tomas auf den Stufen stehen. Sofi wartete ein wenig abseits und starrte vor sich hin.
Er eilte die vier Stufen hinauf. „Geht es um etwas Radioaktives?“
Die Gruppe sah ihn fassungslos an. Anscheinend wussten sie nichts über die Geschichte der KTH. Henning schüttelte den Kopf.
„Du solltest es dir selbst ansehen“, sagte Sofi. Sie hatte sich in ihre Jacke gehüllt. Ihre Stimme zitterte in der Morgenkühle. Im Osten dämmerte es.
„Ja, du musst es selbst sehen“, fand auch Henning und machte eine einladende Geste. Er half Kjell, den Weg über den Vorhof zurückzulegen.
Am Eingang warteten Per und Lasse. Per warf seine Zigarette weg und ging voraus. Er führte den Trupp auf einer Seitentreppe hinab und durch einen langen Gang.
„Es war unmöglich, es sofort zu bemerken“, murmelte Per auf den letzten Metern. „Es sind die Beile.“
„Die Fasces?“
„Sie haben dem Speer äußerlich so sehr geglichen. Den Unterschied ergab erst die genauere technische Prüfung.“
„Worin liegt denn der Unterschied?“, fragte Kjell gereizt davon, dass er es nur noch mit langen Gängen zu tun bekam, seit er seine Schiene trug.
Der Gang mündete in einen größeren Raum, der sich als Labor erwies. Hier warteten weitere Personen, eine Frau in weißem Kittel und zwei ältere Männer. Per stellte die Frau als Erna vor. Sie war die Leiterin des Labors.
„Professor Jonathan Högström von der Universität. Er leitet das archäologische Institut.“
Kjell nickte und gab Högström die Hand. Högström nickte länger vor sich hin, als das Händeschütteln dauerte.
„Doktor Lippmann leitete das Bergbaumuseum in … irgendwo in Deutschland. Er war so freundlich, zu uns zu kommen.“
Offenkundig verstand Doktor Lippmann kein Wort Schwedisch, nickte aber freundlich, als sein Name fiel. Er war einige Jahre jünger als Högström.
„Wie ich höre, bist du ja vom Fach“, sagte Högström und machte eine einladende Geste in den Raum. Beim Eintreten blieb Sofi ihm dicht auf den Fersen. Um die vier Wände des Laborraums liefen Arbeitsbänke, auf denen Messgeräte standen. Über dem Tisch in der Mitte des Raumes schwebte eine Leiste mit Neonleuchten.
Die Holzzweige fehlten. Die Beile lagen nackt und in einigem Abstand zueinander auf dem Tisch. Ihre dunkle Oberfläche reflektierte kein Licht. Die Schäfte waren ebenfalls aus Metall und hatten die Länge eines Unterarms, der Kopf der Beile besaß zwei symmetrische Blätter, die aber eher wie ein Hammer anmuteten.
Kjell beugte sich über die linke Axt. „Da ist etwas eingeritzt.“
„Ja“, erwiderte Sofi knapp. „Lies es.“
Die Buchstaben waren klar zu lesen.
M LIC COS stand da.
„Soll das Latein sein?“, fragte Kjell in die Weite des Raumes. „Marcus Licius oder Licinius?“ Er kam darauf, weil COS eine gängige Abkürzung für das Wort ‚Konsul‘ war.
„Das heißt es. Mach beim rechten weiter.“
Kjell humpelte zur rechten Axt und las die Inschrift.
CN POMP IMP III COS.
„Gnaeus Pompeius. Ist das etwa der Pompeius?“
Barbro tauchte neben ihm auf. „Jetzt kannst du die dritte Inschrift erraten, wenn du kein Versager bist.“
Beileibe, Kjell konnte es nicht. Sein Kopf war völlig leer und auf bloße Aufnahme ausgerichtet. Er las die dritte Inschrift.
C CAESARIS PONTIF MAX COS.
„Zum Glück sind die Meriten ebenfalls notiert“, sagte die zittrige Stimme Högströms aus dem hinteren Teil des Raumes. „So konnten wir schnell eine relative Chronologie erstellen. Caesar war bereits einmal Konsul, Pompeius hat seine drei Triumphe gefeiert, aber Pompeius und Crassus haben ihr zweites gemeinsames Konsulat noch nicht angetreten.“
„Crassus?“
„Marcus Licius Crassus, ja. Dieser Chronologie nach müssen wir die Inschrift auf etwa 56 vor Christus datieren, zur Zeit der Erneuerung des Triumvirats in Luca.“
Kjell fuhr herum. „Wollt ihr sagen, dass das hier echt ist?“
Niemals, dachte Kjell. Das war nie und nimmer echt.
Aber die Laborleiterin beantwortete seine Frage mit einem naturwissenschaftlichen Nicken. „Inzwischen sind unsere Zweifel minimal. Zum Glück ist das Metall mit Birkenpech beschichtet. Dieses Material haben wir mit der Infrarot-Spektroskopie datiert.“
„Wie konnte es sich so ausgezeichnet halten?“
Die Laborleiterin winkte ab. „Das ist noch gar nichts! Es gibt Pechfunde, die zwanzigmal so alt sind. Mich erstaunt weniger das Alter, als vielmehr die chemische Zusammensetzung. Sie weist auf höchstes Handwerk hin. Andere Peche werden schon weich, wenn man sie eine Weile anfasst. Bei diesem liegt die Grenze um siebzehn Grad über der menschlichen Körpertemperatur. Und zudem enthält es einen ungewöhnlich geringen Anteil an Säuren, so dass das Metall nicht angegriffen wurde.“
Kjell starrte auf den Tisch. „Entschuldigung, aber wisst ihr, wie Metall normalerweise aussieht, wenn es zwei Jahrtausende lang in der Erde gelegen hat? Nicht so!“
„Doktor Lippmanns archäometallurgisches Gutachten bestätigt das hohe Alter.“
Lippmann nickte, obwohl er wieder nicht mehr als seinen Namen aufgeschnappt haben konnte.
„Ich gebe dir recht“, sagte Högström. „Diese Artefakte können kaum in der Erde gelegen haben. Kein Wunder, dass ihr den Beilen ihr Alter nicht angesehen habt.“
„Aber die Inschriften. Die müssen ja nicht echt sein.“
Die Laborleiterin erhob sich von ihrem Drehstuhl und kam auf den Tisch zu. „Bisher kann ich das nicht ausschließen. Ich glaube jedoch eher, dass sie echt sind. Die Gravur liegt nicht nur im Metall sondern auch in der Pechschicht, und diese Schicht stammt aus der Mitte des ersten Jahrhunderts vor Christus. Es gibt zudem Hinweise, dass vor dem Auftragen eine noch ältere Beschichtung auf dem Metall gewesen ist.“
„Das wäre ja ein Beleg für das erste Triumvirat.“ Kjells Kopf hatte wieder zu arbeiten begonnen.
„Das liegt jedenfalls nahe“, bestätigte Högström.
„Welches der drei Fasces hast du im Park eigentlich aus dem Koffer genommen, Sofi?“
„Dreimal darfst du raten“, antwortete Barbro für ihre Kollegin.
Dass Sofi auf den Fund gestoßen war, wunderte Kjell überhaupt nicht. Das Schicksal machte seinen Knoten immer bei ihr. Aber die Fasces als Zeichen höchster Herrschaft passten nicht zu Sofi. Eigentlich hätte Theresa beherzt zugreifen müssen.
„Warum sollten Caesar, Pompeius und Crassus die Beile zu diesem Zweck geschmiedet haben?“, fragte er. Dabei lag es nicht so fern, denn das Triumvirat hatte zum Ziel gehabt, die Macht unter den drei Männern aufzuteilen. Und die Fasces standen für Macht.
„Das haben sie nicht“, erwiderte die Laborleitern. „Die Beile selbst wurden weit vor dieser Zeit geschmiedet.“
„… und von den dreien usurpiert“, fügte Högström hinzu.
„Was meint er mit ‚usurpiert‘?“, fragte Per in rücksichtsloser Lautstärke.
Barbro erklärte es ihm. „Stell dir vor, jemand meißelt in den großen Jesus von Rio de Janeiro den Satz ‚Ich bin Theresa Julander‘. Das wäre Usurpation.“
„Entschuldigung, wann wurden sie denn dann geschmiedet?“, fragte Kjell in das Gelächter der anderen.
„Etwa zu der Zeit, als Homer die Ilias schrieb“, antwortete die Laborleiterin. „Etwas zugespitzt ausgedrückt.“
Högström nickte. „Die unterste Schicht stammt aus dieser Zeit. Und es gibt eine erdrückende Bestätigung von Doktor Lippmann. Die metallurgische Feinanalyse zeigt, dass das Metall eine Legierung ist, die man als korinthisches Erz kennt. Der Anteil an Verschmutzung ist äußerst gering und identisch mit anderen Artefakten, die zu dieser Zeit im ägäischen Raum hergestellt wurden.“
„Es gibt auch eine Inschrift auf dieser ältesten Schicht“, sagte Sofi und deutete auf den Monitor am Schreibtisch der Laborleiterin. „Sie ist auf allen drei Äxten gleich. Aber man sieht sie nicht mit bloßem Auge.“
Kjell humpelte zum Schreibtisch. Auf dem Bildschirm sah man grob aneinandergefügte Bilder wie bei Satellitenaufnahmen.
Die Laborleiterin vergrößerte einen Ausschnitt. „Man muss den Kontrast deutlich verstärken, damit man es überhaupt lesen kann. Auf der Röntgenaufnahme erkennt man es viel deutlicher. Die späteren Inschriften sind grobe Einritzungen, diese hier dagegen kunstvolle Gravuren direkt auf dem Metall. Sie sitzen auf halber Höhe des Schaftes und laufen einmal rund herum, so dass wir noch nicht wissen, wo der Text beginnt und wo er endet.“